Biografische Notizen zu Identitätskonzepten und Werten

Aktuelle Konzepte von Identität beziehen sich stark auf Gender, Sexuelle Orientierung, ethnische Herkunft und Status der Zuwanderung. Sie erscheinen vielen, oft auch älteren Menschen als künstlich überbetont und fremd. So werden benannt: Transgender oder Nicht-Binäre, Neue Deutsche oder Bio-Deutsche (frühere Bezeichnungen Ausländer oder Menschen mit Migrationshintergrund gegenüber Inländern oder Deutschen), Queere (englisch für „abweichend“, Sammelbewegung zu sexuellen und geschlechtlichen Identitäten).

Ich möchte anhand biografischer Notizen aus der Vergangenheit meiner Familie, meiner Herkunft, frühere Konzepte von Identität und deren Geworden-Sein darstellen.

Meine Großmutter Margarete (1885-1973) reagierte in meiner Kindheit auf Spott gegenüber dem britischen Königshaus: „Das darf man nicht sagen, das ist Majestätsbeleidigung!“ Als Kind kam mir das komisch vor, viel später verstand ich, dass sie um die 30 war, als der Kaiser abdankte und sie damit ausdrückte, dass es Teil ihrer Identität war, Untertanin in einer Monarchie gewesen zu sein.

Mit ähnlicher Ehrfurcht in der Stimme sprach sie vom Pfarrer Bammessel, wohl ein frühes Mitglied einer bedeutenden evangelischen Theologenfamile als Gemeindepfarrer in Maxfeld. Ein wichtiger Teil ihrer Identität war also auch die konfessionelle und soziale Einbindung in die evangelische Kirche.

Die soziale Einbindung und ihre Bedeutung zeigte sich, als ihr Enkel eine Katholikin heiratete. Ich erinnere mich, dass sie einige Jahre lang wohl nicht anders konnte, als diese Entscheidung mit Unverständnis um Ablehnung zu kommentieren. Das Überlegenheitsgefühl in dieser Facette ihrer Identität, mag im Kulturkampf des 19. Jahrhunderts der Protestanten gegenüber den angeblich zur Moderne unfähigen Katholiken herrühren oder auch der Ablehung armer, katholischer Zuwanderer nach Nürnberg. Der Historiker und Antisemitismusforscher Wolfgang Benz hat das heutige Ressentiment gegenüber Muslimen mit dem gegenüber Katholiken im Kulturkampf verglichen.

Meine Großmutter und mein Großvater hatten, wie viele selbständige Handwerkerfamilien ein Mietshaus zur Altervorsorge erworben. In den 1960 Jahren spielte sich zwischen zwei dieser Familien im Stadtteil ein Drama ab. Statt meines Vaters hatte ein unmittelbar benachbarter Bäckermeister einen anderen Handwerker mit der Erneuerung eines Blechdaches beauftragt. Die dadurch ausgelöste Feindschaft beiden Männer hatte tragische Folgen. Die Identität als Handwerker in einem Stadtteil, fast ein Verweis auf die ständische Gesellschaft der Freien Reichsstadt Nürnberg, machte es unmöglich, so eine Szene als normales Verhalten von Akteuren auf dem Markt zu sehen.

Der Beruf als generative, vererbbare Identität hatte auf meine eigene Biografie eine wichtige, allerdings eher paradoxe Auswirkung. Mein Vater (1917-1987) hatte einen Onkel Leon Gumbrecht, der erfolgreicher Hotelier in München gewesen war und wollte wohl seinem Vorbild folgen. Mein Großvater entschied aber Mitte der 1930er Jahre eine traditionelle Geschäftsübergabe vom Vater an den Sohn. Mein Vater musste die Oberrealschule verlassen und eine Lehre im väterlichen Betrieb machen. Diese, für ihn ein Berufsleben lang bittere Entscheidung, führte dazu, dass er mich genau einmal fragte, ob ich das Geschäft übernehmen möchte. Meine Verneinung wurde ohne jede Diskussion akzeptiert. Dass die frühere Werkstatt meines Großvaters und Vaters heute mein Beratungsraum ist, bedeutet mir viel und erinnert mich an früher bedeutsame Konzepte von Identität, deren Modernisierung oft schmerzhafte Prozesse waren.

Die Faszination meines Vaters für seinen Onkel und Taufpaten hatte übrigens ihre Wurzeln wohl in einer frühen Abkehr von traditionellen Identitätskonzepten. Sein Onkel war nie verheiratet, war weit gereist, es gibt Fotos aus seiner Zeit im Shepheard Hotel in Kairo auf einem Araber-Schimmel vor den Pyramiden. In einer Korrespondenz zwischen ihm und einer Schweizer Contessa, die ihm wohl Geld schuldete, zeigte sich auch, dass er Standesgrenzen überwunden hatte.

Uturm der Bismarckschulehr
Foto: Jutta Siegel

In meiner Kindheit und Jugend in der 1960er und 1970er Jahren waren Konzepte von Identität und damit verbundenen Werten in einer rasanten und konflikthaften Entwicklung. Meine Grundschule in der Bismarckstraße (!) hatte noch zwei Eingänge für Knaben und Mädchen und in Klassen 1 – 3 gab es ausschließlich über 40 evangelische Jungs. Der frühere Nürnberger Bürgerstolz zeigt sich übrigens heute noch in der Architektur der Schule, einem Jugendstilpalast mit reichen Ornamenten und Uhrturm.

Mädchen Eingang der Bismarckschule Nürnberg

Methode des Wertevergleichs

Die Veränderungen in den Konzepten von Identität begegnen mir heute in Supervision und besonders häufig im TRIK®-Training interkultureller Kompetenz. Vor allem bei zugewanderten Menschen im Klientel oder im Team werden „vormoderne“ Konzepte von Identität oder Werte problematisiert, besonders was Geschlechterrollen, nationalistische oder religiöse (muslimische) Identitäten anbelangt.
Ausgangspunkt dieser Problematisierung ist häufig die Vorstellung die deutsche oder westlich/europäische Gesellschaft an sich hätte moderne Werte und diese Werte seien für Zugewanderte ein Entwicklungsziel. Sie übersieht die Tatsache, dass die Modernisierung von Identitäten und Werten häufig erst ab den 1970er Jahren gegen große Widerstände erkämpft werden musste und Roll-Backs möglich sind.

Aus meinen biografischen Erfahrungen heraus kann die Methode des Wertevergleichs abgeleitet werden. Auch traditionelle Konzepte von Identität basieren auf Werten, die nicht als „alt“, „falsch“ oder „überkommen“ beschrieben werden sollten, sondern zunächst als anders oder fremd.

Besonders wenn Trainees oder Supervisand*innen familiär oder gesellschaftlich die „modernen“ Werte erkämpft haben, ist viel emotionale Arbeit zu leisten, um professionell distanziert andere oder fremde Identität und Werte zu sehen und negative Bewertungen zu suspendieren.

Michael Greißel

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