Supervision
Team-Supervision in einer ländlichen Intensiv-Wohngruppe für Menschen mit Behinderung.
Soner, einer der Bewohner, Mitte 30, 150 kg schwer, war zusammen mit einem anderen Bewohner und einer Mitarbeiterin der Wohngruppe in Nürnberg unterwegs. Eigentlich sollte ein Rezept für eine Brille und die Brille selbst für den anderen Bewohner besorgt werden und für Soner sollte der Wunsch wieder mal in die Stadt zu fahren, erfüllt werden.
Auf dem Weg vom Arzt zum Optiker begann Soner, wie schon häufig, einen Schwächeanfall zu simulieren, lag schließlich mitten in der Fußgängerzone auf dem Pflaster und schnell sammelte sich eine Menge von Passanten drumherum. Darunter ein Arzt mit der Schnelldiagnose epileptischer Anfall und Ruf des Notarztes.
Der Mitarbeiterin war die Szene peinlich, sie versuchte den Arzt zu überzeugen, dass Soner simuliert, wie so oft, bekam dann aber selbst Zweifel. Der andere Bewohner hatte schließlich die rettende Idee und sagte: Soner will übermorgen zum Champions League Schauen in die Kneipe. Sag ihm, das darf er nur, wenn er jetzt wieder aufsteht!
Soner stand auf, der Notarzteinsatz wurde storniert, der Ausflug in die Stadt wurde abgebrochen, es gab keine Brille. Soner durfte nicht in die Kneipe. Die Mitarbeiterin war noch eine Woche später in der Supervision voller Scham über den Vorfall, voller Angst vor weiterem Kontrollverlust und weiterer Peinlichkeit und das Team schätzte die Entwicklung von Soner als gefährlich und bedrohlich ein. Soners Freiräume wurden Zug um Zug eingeschränkt.
Wir arbeiteten an der Situation, an der spürbaren Tatsache, dass die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter Soner gernhaben und an Soners Ressourcen. Ziel war auch, die Öffentlichkeit des Vorfalls als Quelle der Beschämung zu identifizieren und Soners alleinige Verantwortung dafür zu relativieren. Da fiel mir folgende Intervention ein:
Wie hätte es die Situation für Sie verändert, wenn Sie nach dem Vorfall das Baseballcap Ihres Kollegen hier gehabt hätten und damit bei den Passanten Geld eingesammelt hätten?
In der abschließenden Rückmelderunde äußerte die Mitarbeiterin, sie hätte jetzt Lust mit Soner nochmal nach Nürnberg zu fahren und das mit dem Geld einsammeln auszuprobieren. Das Team willigte in den Versuch ein, Soner wieder mehr Freiräume und Aufmerksamkeit zu ermöglichen. Die damit verbundene Hoffnung ist, dass Soners eskalierendes Verhalten dadurch weniger wahrscheinlich, weil unnötig, wird.
Tage später fiel mir ein, wo meine innere Quelle für die Intervention gelegen hatte. Als junger Lehrer in einer Nürnberger Brennpunktschule hatte ich mit meiner Klasse Bertolt Brechts Keunergeschichten gelesen, unter anderem folgende:
Der hilflose Knabe
Herr K. sprach über die Unart, erlittenes Unrecht stillschweigend in sich hineinzufressen, und erzählte folgende Geschichte: „Einen vor sich hinweinenden Jungen fragte ein Vorübergehender nach dem Grund seines Kummers. ‚Ich hatte zwei Groschen für das Kino beisammen’, sagte der Knabe, ‚da kam ein Junge und riß mir einen aus der Hand’, und er zeigte auf einen Jungen, der in einiger Entfernung zu sehen war. ‚Hast du denn nicht um Hilfe geschrien?’ fragte der Mann. ‚Doch’, sagte der Junge und schluchzte ein wenig stärker. ‚Hat dich niemand gehört?’ fragte ihn der Mann weiter, ihn liebevoll streichelnd. ‚Nein’, schluchzte der Junge. ‚Kannst du denn nicht lauter schreien?’ fragte der Mann. ‚Dann gib auch den her.’ Nahm ihm den letzten Groschen aus der Hand und ging unbekümmert weiter.“
Im unterirdischen Zugang zu einem U-Bahnhof hatten wir diese Geschichte als „Unsichtbares Theater“ nach dem brasilianischen Regisseur und Theatertheoretiker Augusto Boal inszeniert und den Passanten zwar nicht Geld abgenommen, sie aber doch involviert und berührt.
Was passieren kann, wenn es mit dieser Methode, sei es auch nur gedanklich, gelingt, die mutmaßliche Eindeutigkeit belastender Situation in Ambivalenz zu transformieren, hat mich noch 30 Jahre nach der ursprünglichen Situation beglückt und erheitert.
Michael Greißel