Hello Darkness my old friend – Angst vor Atomkrieg

Hello Darkness my old friend – Die Wiederkehr der Angst vor dem Atomkrieg

Seit Beginn des Angriffskriegs der Russischen Föderation auf die Ukraine wurde vom russischen Machthaber Putin und aus seiner Umgebung wiederholt gedroht Atomwaffen gegen den Westen einzusetzen.
Die Friedrich-Ebert-Stiftung hat eine Studie „Angst vor der Bombe“ im Januar 2023 publiziert, in der das Ansteigen der Angst vor Auswirkungen des Krieges auf Deutschland deutlich wird. (https://library.fes.de/pdf-files/bueros/wien/20005.pdf). Ich würde ein weiteres Ansteigen seither vermuten, besonders seit der Wiederwahl Donald Trumps.
Von den 1950ern bis 1990 waren diese Kriegsgefahr Auslöser von Ängsten. Diese Angst wurde in West-Deutschland auf unterschiedliche Art gelebt: Vom Kampf gegen die Wiederbewaffnung in den 1950ern, über das Verdrängen im Wirtschaftswunder bis hin zur Friedensbewegung und der Gründung der Grünen in den 1980ern.
Lange Zeit wurde die Angst aus der Forschung und der Thematisierung in der Öffentlichkeit erstaunlicherweise ausgeklammert. Vielmehr wurden Rationalisierungen, etwa über das Funktionieren der Abschreckung betont. (Vgl. dazu das Interview „Wie die Angst vor dem Atomkrieg unterschätzt wird „Drei Fragen an PD Dr. Frank Sauer am 20. Juni 2024) Quelle: https://www.loccum.de/mediathek/wie-die-angst-vor-dem-atomkrieg-untersch%C3%A4tzt-wird/
Es ist allerdings auch zu vermuten, dass diese Angst unbewusste Auswirkungen hatte und wieder haben wird: Die globalen Protestbewegungen 1968 und die No-Future-Haltungen in der 1970ern und 80ern. Heute Ende 2024 steht diese Angst im engen Zusammenhang mit den psychosozialen Folgen der Corona-Pandemie (besonders bei Kindern und Jugendlichen) und den Ängsten angesichts der Klimakrise.
Ich möchte versuchen mich der Wiederkehr der Angst vor dem Atomkrieg autobiografisch anzunähern.
1979 war ich als Abiturient hautnah mit dem Thema Krieg konfrontiert. Es herrschte Wehrpflicht und als Kriegsdienstverweigerer musste ich mich einer persönlichen Gewissensprüfung durch einen dreiköpfigen Ausschuss unterziehen. Um die Gewissensnot nachweisen zu können, war es ratsam sich vorzubereiten. Absurde Fragen nach dem eigenen Verhalten, wenn ein „Russischer Soldat“ der eigenen Freundin sexuelle Gewalt antäte und man zufällig eine Waffe dabeihabe, waren Realität in dieser Prüfung. (Aus heutiger Sicht machen die Heteronormativität, die Geschlechterrollen und der Rassismus, die diesen Fragen zugrunde liegen, sie noch absurder als schon damals.)
Der Zivildienst war übrigens zur „Abschreckung“ 18 Monate lang, der Wehrdienst nur 12 Monate.
Zur Vorbereitung wurden auch Filme wie „The War Game“ empfohlen. „Es ist ein britischer Kurzspielfilm im Stil eines Dokudramas über einen hypothetischen nuklearen Angriff auf Großbritannien während des Kalten Krieges. Peter Watkins drehte den Schwarzweißfilm 1965 für den britischen Sender BBC. Der 1966 im Kino (in der BRD erst 1971) veröffentlichte fiktive Dokumentarfilm erlangte unter anderem Bekanntheit durch eine öffentlich geführte Debatte über die drastische Darstellung der Folgen eines atomaren Krieges sowie der Entscheidung der BBC, den Film nicht auszustrahlen.“ (Wikipedia)
Die emotionalen Folgen dieser Auseinandersetzung mit dem Thema Atomkrieg waren in der Reflexion aus heutiger Sicht bedeutsam. Zusammen mit dem Bericht des Club of Rome zu den „Grenzen des Wachstums“, den ich um 1976 wahrnahm, entstand eine Zukunfts-pessimistische Grundhaltung. Eine akademische Ausbildung wegen der besseren Karrierechancen einzuschlagen, erschien sinnlos. Fantasien des Ausstiegs vom Leben in einer Landkommune, ein (brotloses, angesichts der immer zu vielen Babyboomer auf dem Arbeitsmarkt) Magisterstudium der Politikwissenschaften und ein Engagement in kritischen politischen Bewegungen (Hausbesetzer, Friedensbewegung, später Anti-Rassismus und Bürgerrechte für Migrant*innen) fühlten sich sinnvoller an.
Die Angst vor dem Atomkrieg und der Klimakatastrophe vermischte sich mit Erfahrungen in einer Gesellschaft, die an relevanten Stellen noch mit alten Nazis besetzt war und der deshalb besser nicht zu trauen war.
Durch meine positiven Erfahrungen während des Zivildienstes 1981-83 in einer „Initiative zur Betreuung ausländischer Kinder“ (so hieß das damals noch!) konnte ich mich immerhin auf ein Lehramtsstudium mit Zusatzfach Didaktik des Deutschen als Zweitsprache einlassen und den Plan schmieden nach dem Abschluss im Auslandsschuldienst in der Türkei fernab des Bayrischen Schulsystems zu arbeiten.
Der Abschluss meines sehr langen Studiums fiel dann in die Zeit des Mauerfalls und des Endes der Sowjetunion. Die Bedrohung durch die Staaten des Warschauer Pakts löste sich quasi über Nacht auf, ich war damals übrigens sehr froh über die Entscheidung der Ukraine die alten sowjetischen Atomwaffen abzugeben.
Es wäre jetzt eine zu eindimensionale Konstruktion, ein sehr erfolgreiches Referendariat und eine erfolgreiche Arbeit als Lehrer in sogenannten Brennpunktschulen auf den Wegfall der Angst vor dem Atomkrieg zu schieben. Ich war ja auch älter geworden. Dennoch bin ich sicher, dass die Entwicklung einer optimistischeren Grundhaltung ohne diese Veränderung deutlich schwerer gewesen wäre.
Seit 2003 arbeite ich als freiberuflicher Supervisor, Coach und Organisationsberater DGSv und als Trainer für interkulturelle Kompetenz. Häufig habe ich in meiner Arbeit mit den Ängsten zu tun, die Fach- und Führungskräfte in der Beratung thematisieren. Sie werden oft als Hindernis für eine entspanntere Haltung in der beruflichen Rolle wahrgenommen. Bei Beratung in der Arbeitswelt, das ist allen meinen Formaten gemeinsam, sind meist Themen wie zunehmende Komplexität, Digitalisierung, Fachkräftemangel, Verdichtung von Arbeit und das Leiden unter der (großen) Organisation Grundlage negativer Emotionen.
Dennoch rechne ich damit, dass in Zukunft wieder die Angst vor dem Krieg, die atomare Bedrohung die Psyche meiner Klient*innen beeinflussen wird. Möglicherweise ist es hilfreich, Phasen mit und Phasen ohne diese Angst erlebt zu haben. In jedem Fall glaube ich, dass ein reflektierter Umgang mit diesem Aspekt unserer Gegenwart wichtig ist.
Der Titel des Blogs ist mir beim wieder einmal Schauen der „Reifeprüfung“ eingefallen. Er ist 1967 in die Kinos gekommen, also unter dem Eindruck der Kuba-Krise 1962 entstanden. Damals stand die Welt ganz knapp an der Schwelle zum Atomkrieg. Die gängigen Interpretationen nennen die Vereinzelung des Individuums in der modernen Gesellschaft als Thema des Films und des Liedes „The Sound of Silence“.
Für mich ist die Zeile „Hello Darkness my old friend“ aber passend zur Wiederkehr der Angst vor dem Atomkrieg. Ich kenne sie schon, sie berührt mich wieder, aber ich habe Hoffnung, dass ich Erfahrungen gemacht und reflektiert habe, die mir helfen besser mit ihr umzugehen.

Michael Greißel im Dezember 2024

 

1 Kommentar zu „Hello Darkness my old friend – Angst vor Atomkrieg“

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