Das offene Rätsel der anonymen Zettelchen im Briefkasten zuerst aufgelöst:
Es ist die innere Stimme des Erzählers, die Nachrichten im Briefkasten platziert. Oder, gewagte These, es ist die Stimme eines humorvollen Analytikers auf den Zettelchen im Briefkasten.
Der Roman als Psychoanalytisches Setting
Ja, ich lese den Roman als intensives Psychoanalytisches Setting, ein Jahr bis zum Ende des bisherigen Lebens!
Es ist der klassische Anlass für eine Psychoanalyse: depressive Verstimmung nach dem Scheitern einer Ehe.
Aussprechen, was ist, ohne zu deuten, ohne zu psychologisieren. Das Wort Trauma kommt nicht vor, aber eine Menge traumatische Erlebnisse werden scheinbar männlich cool, oft schmerzlich, weil emotional präzise erzählt.
Die Enttäuschungen des Lebens bekommen durch diese Art des Aussprechens die Chance integriert zu werden. Dabei kommen auch sexuelle Tabus zur Sprache, ohne Beschönigen oder Rechtfertigung.
Misogynie, nein, allgemeine Misanthropie
Misogynie kann man Toni unterstellen, das ist allerdings zu kurz gegriffen, es handelt sich eindeutig um allgemeine Misanthropie, sein Kumpel, sein Bruder Raulito sind Zeugen.
Die Kruste der modernen, toleranten und demokratischen Persönlichkeit über dem autoritären Charakter (Adorno) ist dünn und brüchig.
Das Weggeben der Bücher und Erinnerungsstücke ist eine Dekonstruktion der erinnerten Entwicklung. Was wichtig ist, wurde in das Moleskine Heftchen übertragen oder im Gedächtnis des Tagebuchs gespeichert.
Postfaschistische Gesellschaft
Die Lieblosigkeit in diesen Familien des Postfaschistischen Spaniens, emotional spärlich und aggressiv im Umgang miteinander, ist schwer erträglich. Aber die Geheimnisse müssen geschützt werden. Offenheit und Wahrhaftigkeit hätten ins phantasierte Verderben durch Erinnern rutschen können.
Die Liebesbeziehungen zwischen Männern und Frauen werden ebenfalls im gesellschaftlich historischen Rahmen beschrieben. Den Männern ist ein kalter Machismo und die Unfähigkeit eigene Bedürfnisse zu artikulieren eigen. Als Ersatz für den ehelichen Sex suchen sie Prostituierte (oder Sexpuppen) auf.
Die beschriebenen Frauen sehen Ehe und Sex in der reaktionär katholischen oder spanisch faschistischen Tradition alleine zum Zweck der Zeugung und dem Großziehen der Kinder.
Zwischen Burleske und ernsthaften Psychogramm
Weniger eindeutig ist die Erzählung in ihrem Spannungsfeld von Ernst und satirischer Übertreibung. Einige Passagen bringen einen zum Lachen, andere sind voller Tragik und beide sind oft anrührend.
Die Erzählung oszilliert zwischen Burleske und dem ernsthaften Psychogramm des Postfaschistische Spaniens und zwar innerhalb der einzelnen Tagesberichte.
Diese Wendungen sind so überraschend, dass daraus eine Komik entsteht. Leser*innen fallen in der Öffentlichkeit durch schallendes Lachen auf.
„Vielleicht hindert mich ein noch nicht diagnostizierter Hirnschaden daran, positive Gefühle in Worte zu fassen, oder ich bin das Opfer der erzieherischen Fahrlässigkeit meiner Eltern. Ich habe meine Eltern nie das Wort Liebe aussprechen hören.“ S. 421
Die Beziehung des Ich-Erzählers Toni zu seinem jüngeren Bruder Raul ist von Eifersucht, Missgunst und Mobbing geprägt, schwingt aber immer wieder ins satirische und verrät letztlich eine große Nähe mit gleichzeitiger Unfähigkeit sie zuzulassen.
Der Terminus Postfaschistische Gesellschaft ist für mich zentral für das Verständnis des Romans.
Ebenso zentral ist er auch für die Beschreibung der deutschen Gesellschaft. Natürlich hat der Faschismus in Spanien länger gedauert als in Deutschland, obwohl man in den Institutionen der 1970er Jahre auch in Deutschland noch dem ausgesetzt sein könnte, etwa in meinem Gymnasium.
Beim Lesen erkenne ich viele Erfahrungen der Baby Boomer in beiden Ländern wieder.
Bedeutung für das Training interkultureller Kompetenz
Der Terminus Postfaschistische Gesellschaft eröffnet den Zugang zu deutschen Besonderheiten im Umgang mit nationaler Identität, Hymne, Fahne, Stolz, besonders für Expats aus der Türkei oder anderer Ländern, die ein nationales Wertesystem pflegen.
„Vaterländische Symbole bringen mein Blut nicht in Wallung“ (S. 530)