Eine Befragung nach den Bezügen zur politischen und gesellschaftlichen Gegenwart der heutigen Türkei
Der Roman ist im Jahr 1901 im Osmanischen Reich angelegt. Der Spielort ist Minger, eine fiktive Insel zwischen Rhodos und Kreta. Die Hauptstadt Arkaz weist Ähnlichkeiten, aber auch deutliche Unterschiede zu Istanbul auf, eine Landkarte im Buch belegt das. Manche Details der Geschichte von Arkaz erinnern auch an die Prinzeninsel „Büyük Ada“, die von vielen alteingesessenen Istanbulern als Sommerfrische mit Holzhäusern und ohne Autoverkehr genutzt wird.
Die Identität des Erzählers ist dreifach fiktiv verfremdet. Quellen sind Briefe der Osmanischen „Prinzessin“ Pakize Sultan, die sie an ihre Schwester zwischen 1901 und 1903 schrieb. Deren Nachkommin, Mina Mingerli zeichnete wohl im Jahr 2017 die Geschichte aus den Briefen und eigener Recherche auf.
Der Erzählton spielt mit dieser fiktiven Verfremdung und ist an vielen Stellen ironisch. Meistens gibt er sich aber den Anschein einer quellentreuen historischen Erzählung.
Die Stadt Arkaz hat, wie Istanbul am Ende des Osmanischen Reichs, noch vor den gewalttätigen Vertreibungen oder Ermordungen der Minderheiten, eine aus orthodoxen Griechen und muslimischen Türken nicht ohne Spannungen zusammenlebende Bevölkerung. Sie ist schon auf der Karte in westliche Stadtteile mit muslimischer Bevölkerung und östliche mit griechisch-orthodoxer aufgeteilt. Auch Institutionen sind verteilt, im Westen befinden sich eine Reihe von Moscheen und Ordenshäusern (Tekke), im Osten griechische Kirchen, Schulen, Friedhöfe, Krankenhäuser.
Gegenüber dem halbmondförmigen Hafen mit den Büros der Schiffgesellschaften und dem Sitz des Gouverneurs (Vilayet) liegt die Burg, die als Gefängnis dient.
Die fiktive Quelle der Erzählung, die Briefschreiberin Pakize Sultan ist mit ihrem Mann Damat Dr. Nuri, einem Infektionsarzt auf der ursprünglichen Reise von Istanbul nach Indien in Minger wegen der sich ausbreitenden Pest gestrandet. Damat, etwa „Prinzgemahl“ Dr. Nuri kam als Begleiter von Bonkowski Pascha, des Chefchemikers des Sultans auf die Insel.
Bonkowski Pascha, ein Gelehrter mit polnischen Wurzeln, wurde nach einigen Tagen der Recherche über die Umstände der Pest ermordet. Die Auflösung des Kriminalfalls „in der Tradition und mit den Methoden von Sherlock Holmes“ ist ein Handlungsstrang.
Welche Bezüge gibt es nun zur politischen und gesellschaftlichen Gegenwart der heutigen Türkei?
Der Roman wurde 2017 von Pamuk begonnen, Anfang 2020 bei Ausbruch der Covid19-Pandemie schrieb er diesen Entwurf in 12-Stunden-Arbeitstagen um. Es lässt sich also vermuten, dass die aktuelle Realität eine Rolle spielt.
Orhan Pamuk wurde nach eigenen Angaben bei der Rückkehr von einer Gastprofessur in New York von Staatspräsident Erdo?an als Terrorist bezeichnet. (Quelle: Interview mit Orhan Pamuk in Druckfrisch | Büchermagazin, Neue Bücher mit Denis Scheck vom 6.3.2022, ARDalpha)
Der Roman wurde von der türkischen Justiz zum Anlass genommen, Pamuk wegen Verächtlichmachung des Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk zu verfolgen. Die Frage nach der politischen Aktualität des Romans ist also von zentraler Bedeutung.
Nicht zu vergessen: Die fiktive Verfremdung der Identität des Erzählers kann auch als Schutz gegen absurde Strafverfolgung gesehen werden. Allzu oft wurde von türkischen Staatsanwälten versucht, Autoren aus Aussagen ihrer Figuren einen Strick zu drehen.
Die Ich-Erzählerin Mina Mingerli vergleicht sich selbst im Text mit dem „Autor Orhan Pamuk“, eine äußerst raffinierte Rolle rückwärts, von der ich vermute, dass sie im selben Kontext steht.
Aber: Gibt es denn im Text überhaupt erkennbare Kritik historischer oder gegenwärtiger Persönlichkeiten?
Wenn ja, welche?
Es werden Typen von Menschen gezeigt, der Kommandant Kamil trägt Züge eines spät-osmanischen Militärs, aber er ist deutlich nicht identisch mit Mustafa Kemal Atatürk. Weder stimmen Zeitangaben, noch die Dauer der Regentschaft überein.
Pakize Sultan ist eine fiktive osmanische Prinzessin und Autorin der „Quellen“, der fiktiven Briefe an ihre Schwester. Diese, Hatice Sultan, ist tatsächlich eine historische Figur.
Scheich Hamdullah, ein islamischer Ordensvorsteher, hat islamistische Züge, kommt auch ins Amt des Staatspräsidenten, scheitert mit seiner nicht an medizinischen Erkenntnissen orientierten, sondern an alten islamischen Schriften orientierten Quarantäne-Politik und stirbt nach nur 24 Tagen im Amt tatsächlich selbst an der Pest. Er ist aber kein Ebenbild Recep Tayyip Erdogans. Kritik ist am ehestens darin zu erkennen, dass Erdogan eben auch die Inflation, gegen alle wirtschaftswissenschaftliche Vernunft, durch Senkung der Zinsen versucht zu bekämpfen und in wenigen Monaten mehrere Chefs der Zentralbank abgesetzt hat, weil sie seinem Kurs nicht kritiklos folgen wollten.
Kritische Haltungen als eigentlicher Stein des Anstoßes
Mina Mingerli, die fiktive Ich-Erzählerin und Historikerin beklagt auf Seite 677f, dass ihr nach Veröffentlichung des vorliegenden Buches (eine raffinierte Verschlingung der Textebenen Roman und Nachwort einer späteren Ausgabe) der Mingerische Staat 21 Jahre lang die Einreise verwehrt hatte. „Zu der Sperre sei es gekommen, weil ich das Buch veröffentlicht, Aufrufe gegen das in den Achtziger Jahren herrschende Militärregime unterzeichnet, die Inhaftierung Intellektueller, Linker und religiöser Eiferer kritisiert und über den Burgkerker Artikel geschrieben hätte, die eine <Verunglimpfung des Mingerer Volkes> darstellten.“ … „Ausländische Historiker, die jahrelang in den osmanischen Archiven über so unerquickliche Themen wie die Massaker an der armenischen, griechischen und kurdischen Bevölkerung geforscht oder etwa herausgefunden hatten (…) hatten ja auch plötzlich mit ansehen müssen, dass ihnen die Arbeitserlaubnis entzogen wurde. (…) diese unerschrockenen und hochanständigen Kollegen (wurden) gerade wegen ihrer Korrektheit vom türkischen Staat bestraft.“
Nach meiner Einschätzung sind das die eigentlichen Zeilen des Anstoßes. Orhan Pamuk legt Mingerli doch recht klar seine eigenen Befürchtungen vor Verbannung oder Verfolgung in den Mund. Die aktuell inflationär von Staatsanwälten verfolgten Vorwürfe der „Verächtlichmachung des türkischen Staates“ und der „Beleidigung des Präsidenten Erdogan“ machen dies nachvollziehbar.
Außerdem rührt er an die Tabu-Themen der ethnischen und religiösen Minderheiten, hier übrigens nicht auf Minger bezogen, sondern auf die Türkei.
„Als Minger 2008 einen Antrag auf Mitgliedschaft in der Europäischen Union stellte, war es auf einmal nicht mehr so leicht, Oppositionelle einzuschüchtern. …“ (S.678) Diese Passage kann als Ausdruck der momentan unrealistisch scheinenden Hoffnung verstanden werden, dass der Beitrittsprozess der Türkei in die EU vor Verfolgung Schutz böte.
„Zu Anfang des einundzwanzigsten Jahrhunderts, nach Auflösung der althergebrachten Reiche und Kolonialmächte, ist das Wort <Nationalist> zu einem Begriff für Menschen verkommen, die zu allem, was der Staat ihnen hinwirft, Ja und Amen sagen, die nichts im Sinn haben, als den Mächtigen in der Hintern zu kriechen, …“ (S.679) Ich meine hier spricht Mina Mingerli eine ihrer wichtigsten Überzeugungen aus.
Empfehlung an Teilnehmer*innen der interkulturellen Auslandsvorbereitung Türkei
Ich empfehle das Buch, weil es durch seine Form ein Gefühl dafür vermittelt, dass bestimmte Dinge nicht unverblümt und direkt ausgesprochen werden können. Das liegt selbstverständlich nicht an der Kultur, sondern an der autoritären Herrschaft in der Türkei. Darüber hinaus ist es eine lesenswerte Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen Dynamik in Zeiten der Pandemie.