Sascha Stanisic: Herkunft

Herkunft

Saša Stanišić: Herkunft

Ich möchte „Herkunft“ in Zusammenhang mit Andreas Maiers „Heimat“ stellen (vgl. Blog vom März 2023 im Archiv). Maier selbst hat bei einer Lesung in Nürnberg den Bezug hergestellt.
Beide Texte folgen dem Label „autofiktionales Schreiben“. Bei Maier wird das nur angedeutet, bei Saša Stanišić ist es Teil der Beschreibung des Ich-Erzählers: Schon als Kind war er in der Familie als großer Fabulierer und Fantast bekannt.

Saša Stanišić beschreibt seine Herkunft und explizit nicht seine Heimat. Er verwendet den Begriff für sich nur im Plural. Auch Meier dekonstruiert den Heimatbegriff und lokalisiert ihn an der Wand über der Pissrinne.
Bei Saša Stanišić gibt es auch eine zentrale Stelle, wo Herkunft lokalisiert wird. Der Besuch des Dorfes Oskoruša zusammen mit der Großmutter. Mit den Verwandten wird ein Picknick auf den Grabsteinen der Vorfahren gehalten. Eine Schlange namens Poskok (Hornotter) schlängelt sich bedrohlich in einen Speierlingbaum, das Dorf trägt den Namen des Baums. Der Ich-Erzähler und früher auch sein Vater gruseln sich vor diesem Tier und seine Bedeutung wird im Text angedeutet. Im Wohnzimmer der Verwandten stehen stolz Portraits serbischer Kriegsverbrecher. Bei einem anderen Besuch im Dorf verschleiert die Mutter des Ich-Erzählers ihren bosnisch-muslimischen Namen.

Der nationale Chauvinismus, der in den 1980er Jahren nach der jugoslawischen Latenzphase erneut zu Krieg und Völkermord führte, bedroht die Menschen und macht durch Flucht aus Heimat Herkunft.
Interessant für die Gegenwart 2024 in Deutschland scheint mir ein Detail dabei zu sein:
Der Ich-Erzähler benennt für sich ohne jede Relativierung und wiederholt die Kriegsverbrecher als solche. Er spricht aber diese Bewertung seinen Verwandten gegenüber nicht aus. Dieser Umgang mit der Nachkriegsrealität in Bosnien, der extremen Polarisierung der Gesellschaft entlang ethnischer und religiöser Merkmale könnte ein Modell für die Kommunikation in und mit migrantischen Milieus sein.
Kann es Zeichen interkultureller Kompetenz sein, Bewertungen nicht auszusprechen und vielleicht sogar gedanklich auszusetzen, wenn klar ist, das Gegenüber wird aufgrund prinzipiell konträrer Haltung den Dialog nur in die Eskalation treiben und vielleicht ein Beziehungsabbruch die bittere Konsequenz sein?
Ich glaube, in vielen Gesellschaften ist dies lang geübte Praxis. In der deutschen postmigrantischen Gesellschaft war es bisher eher üblich, sich politische Wahrheiten (die darf man ja wohl noch sagen!) nicht zu ersparen.

Weil aber die Spannungen zwischen russischen und ukrainischen Menschen und deren Sympathisanten, sowie zwischen jüdischen und muslimischen beziehungsweise palästinensischen und israelischen Menschen und diesen solidarisch Verbundenen die Gesellschaft weiter spalten könnten, ist es wichtig Alternativen zu der bisher verbreiteten Praxis denken zu können.

Im TRIK-Training Interkultureller Kompetenz, in Supervision und Coaching versuche ich das durch die Formel des „Respekts für den Dissens“ auszudrücken und zu ermuntern Erfahrungen damit zu machen.

Für meine Arbeit ist ein weiteres Detail bedeutsam: In einer Baden-Württembergischen Förderklasse der 1990er Jahre für jüngst zugewanderte Schüler*innen sind sich alle bewusst, dass es unter ihnen einige Traumatisierte gibt. Ihr Verhalten wird nicht an gängigen Normen gemessen, sondern als nachvollziehbar abnormes Verhalten Gegenstand von liebevoll erzählten Anekdoten. Diese Grundhaltung empfehle ich gelegentlich pädagogischem Personal in der Supervision.

Kommentar verfassen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert