Die ANSE ist der europäische Dachverband der nationalen Supervisionsverbände
Es war eine spannende Reise, buchstäblich in ein Spannungsfeld in Europa. Der Krieg in der Ukraine ist dort näher als in Mittel- und Westeuropa. Viele Kolleg*innen aus den baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen und sogar einige Kolleginnen aus der Ukraine waren dabei.
In ca. 10 zweistündigen Workshops und einem reichen Rahmenprogramm wurden viele Aspekte der aktuellen politischen Lage mit den großen Krisen, der Pandemie und dem Krieg verhandelt.
Es wurde ein thematischer Bogen von grundsätzlichen Überlegungen zu kollektiven Traumata bis hin zu den konkreten Auswirkungen auf die Arbeit als Supervisor*innen, Coach oder Organisationsberater*innen gezogen.
Nicht alle Workshops kreisten explizit um diese Themen, aber implizit waren sie doch stets präsent.
„Supervision während des Krieges – Die Macht der Unbesiegten“
Ein besonders eindrucksvoller Workshop war natürlich der, der ukrainischen Kolleg*innen mit dem Titel „Supervision während des Krieges – Die Macht der Unbesiegten“
Hier wurde deutlich, dass der Krieg ein kollektives Trauma ausgelöst hat.
Aber ebenso deutlich wurde, dass dies nicht das erste Trauma in dieser Osteuropäischen Region war und ist:
Die Traumata, resultierend aus dem Hitler-Stalin-Pakt oder wie er hier heißt dem Ribbentrop-Molotow-Pakt. Der Völkermord an den europäischen Juden, auch hier als Holocaust benannt. Natürlich auch die Untaten des Stalinismus, dem Holodomor, dem Völkermord durch Hunger an der ukrainischen Bevölkerung und die Deportationen in die Straflager nach Sibirien, dem Gulag, dem viele Baltische und Ukrainische Menschen ausgesetzt waren. Der Terror der sowjetischen Geheimdienste. Die Katastrophe von Tschernobyl. All das ist stets präsent und wird durch Putins Angriff auf die Ukraine getriggert.
Wahrnehmung der Gesellschaft in Estland
Was über die unmittelbare Erfahrung in den Workshops hinausging war die Wahrnehmung der Gesellschaft in Estland. Ein Land in dem ein großer Teil der Bevölkerung in der Hauptstadt Riga lebt.
Und Riga als Stadt zu erleben, die sowohl touristisch wie wirtschaftlich einen unglaublichen Boom erlebt hat. Eine Parallele ist erkennbar: Auch hier wird sehr erfolgreich, wie im Nachkriegs-Deutschland versucht, der Traumata Herr und Herrin zu werden durch Wirtschaftswunder und Konsum.
Gutes Leben der gut ausgebildeten Mittelschicht – die Automobil-Flotte der Stadt entspricht mindestens der einer deutschen Großstadt und es wird eher zu schweren und PS-starken Modellen aus deutscher, schwedischer, japanischer oder koreanischer Produktion gegriffen.
Entsprechend hoch ist die Umweltbelastung, aber entsprechend leicht ist auch das Lebensgefühl, wo Freiheit vor Sorgen ging – auf jeden Fall bis Anfang 2022.
Trotz der geografischen Nähe zu Finnland, wird eher dem deutschen Wirtschaftswunder-Modell und der Aufspaltung in Arm und Reich in der Gesellschaft, statt dem finnischen oder skandinavischen Modell des sozialdemokratischen Ausgleichs von Reichtum der Vorzug gegeben.
Die Nationalbibliothek in Riga war Gastgeberin der Sommer-Universität, eine besondere Ehre. Sie ist ein herausragendes Beispiel für großartige Architektur in Lettlands Hauptstadt.
Umgang mit ethnischen Minderheiten und mit Mehrsprachigkeit
Aber zurück zu Supervision und Coaching und was in den Fallbeispielen, die geteilt wurden, an allgemein Gesellschaftlichem sichtbar wurde.
Im Gegensatz zu der Generationen-Einteilung in Mitteleuropa (ich dachte vor der Sommer Universität auch weltweit) in Babyboomer und Generation X, Y und Z, gibt es auch in Osteuropa eine Aufteilung der Generationen: Allerdings in sowjetisch und post-sowjetisch sozialisierte Menschen.
Natürlich gibt es auch die Frage, wie in der Gesellschaft mit Minderheiten umgegangen wird.
Das, was in Deutschland eine halbwegs erfolgreiche Entwicklung der letzten 30 Jahre war, der Umgang mit ethnischen und sprachlichen Minderheiten, wird hier anders gesehen. Die russisch-sprachige Minderheit ist eben nicht eine durch individuelle Arbeitsmigration zugewanderte und eher durch Diskriminierung bedrohte Minderheit, sondern sie wird von der ethnisch und sprachlich estnischen Mehrheit eher in der Kontinuität der sowjetischen/russischen Herrschaft gesehen. Sie wird eher als Symbol der Bedrohung durch Putins Russland gesehen und oft erfüllt von Ängsten beobachtet.
So wird auch nicht unbedingt Zwei- oder Mehrsprachigkeit primär als Ressource gesehen, sondern oftmals wird suspekt auf russisch sprechende Menschen in der Supervision geschaut, die sich beispielsweise von der Gruppe absondern, um einen Teil ihrer Kommunikation in russischer Sprache zu führen.
Das fand ich überraschend, weil ja fast alle estnischen Kolleg*innen gut russisch sprechen.
Im TRIK-Training interkultureller Kompetenz empfehle ich meist einen gelassenen Umgang mit der Benutzung der Muttersprache durch Schüler*innen oder Klient*innen. Ich unterscheide dabei zwischen Gebrauch (etwa für Erklärung oder Ausdruck von nur in der Muttersprache möglichen, oft emotionalen Differenzierungen) und Missbrauch (etwa für Machtspiele oder Manipulation) von Sprache. Das erste finde ich tolerabel und ich lade sogar dazu ein, auch wenn ich die Sprache nicht beherrsche, die fühlbare Emotion in der Muttersprache kann die Verstehbarkeit erhöhen. Das zweite sollte als Störung thematisiert werden, weil hier ein zentrales Problem sozialer Gruppen, wie Teams oder Klassen verhandelt werden kann.