Kunst, Korallen und Organisationsentwicklung

MARGARET UND CHRISTINE WERTHEIM, Wert und Wandel der Korallen.

BIS 26. JUNI 2022, MUSEUM FRIEDER BURDA, BADEN-BADEN

Ein integratives und deshalb sehr weibliches Kunstwerk: Das Crochet Coral Reef

Breite Ansicht und einzelner Stock im Vordergrund

Was wird integriert mit Organisationsentwicklung?

Wissenschaft:

Hyperbolische Geometrie – In einer einfachen (Tafel)-Zeichnung wird erklärt: Ein Dreieck in der Fläche hat Innenwinkel von zusammen 180°, in der gekrümmten Ebene >180°. Deshalb krümmen sich Rüschenformen, wenn der Zuwachs der gehäkelten Maschen größer ist, als es die euklidische Geometrie der Fläche erlauben würde. „Das Crochet Coral Reef kann deshalb auch als eine Übung in angewandter Mathematik gesehen werden, bei der Handarbeit mit geometrischer Forschung verschmilzt.“ (Quelle: museum-frieder-burda.de/ausstellung.php)

Ökologie – Der inzwischen nachgewiesene Zusammenhang zwischen der Bedrohung von Korallenriffs mit dem menschengemachten Anstieg des Meeresspiegels und der Meerestemperatur.

„Die Schwestern Wertheim begeistern mit ihrer Kunstpraxis mit Ideen aus wissenschaftlichen Bereichen wie Physik, Logik und Informatik. Die Wissenschaftsautorin Margaret sowie die Dichterin und ehemalige Malerin Christine werden von der Überzeugung getrieben, dass Konzepte, die normalerweise durch Gleichungen und Algorithmen beschrieben werden, auch durch spielerische körperliche Aktivitäten zugänglich gemacht werden können. Hyperbolische Geometrie kann gehäkelt werden; (….) Ziel der Schwestern ist es, „abstrakte“ Konzepte durch „materielles Spiel“ verständlich und lustvoll zu machen.“ (Quelle: artinwords.de/margaret-und-christine-wertheim/)

Soziale Organisation:

„Mit mehr als 40.000 Korallenbeiträgen, gefertigt von 4.000 Mitwirkenden in Deutschland und andernorts, ist dies das bei weitem größte Satellite Reef. In ganz Deutschland kamen Menschen zusammen, um zu häkeln und auf die Krise aufmerksam zu machen, die sich in den Weltmeeren ausbreitet.“ (Quelle: museum-frieder-burda.de/ausstellung.php).

Die soziale Organisation der Kampagne, bekannt von Plattformen wie change.org, kommt mit einem Minimum an physischer Organisation aus, ist aber eben die „gute“ Seite des ansonsten von kommerziellen Interessen strukturierten Internets. Erstaunlich ist übrigens, dass sich trotzdem über 90-jährige Häklerinnen beteiligt haben, meistens in Generationen verbindender Kooperation mit ihren Enkelinnen.






Ästhetik entsteht durch Organisation

Form, Textur, Farbe und Material sind nicht einem detaillierten Entwurf entsprechend gestaltet, sondern haben sich, dem Sujet des Korallenriffs folgend organisch entwickelt. Die Häklerinnen haben wohl über zum Teil sehr lange Zeit Garne angesammelt, neue hinzugekauft und mit nicht textilen Fundstücken kombiniert. Die mehr als 40.000 fertigen Korallen wurden dann von Künstlerinnen nach ästhetischen Kriterien kombiniert, manche als Solitäre, manche als ganze Landschaften zu einem „kooperativen Installationswerk“.
































Interkulturelle Dimension des Weiblichen

Der uralte Bezug von Handarbeit und Glaube (religiös inspirierte Handarbeiten schmücken viele Hausaltäre und Häuser in aller Welt) wird hier auf ein neues Feld geführt, Handarbeit und die Erhaltung der Schöpfung, das Kontemplative der Handarbeit, die in Klöstern verschiedener Religionen spirituelle Praxis ist. Diese interkulturelle Lesbarkeit der Arbeiten führte zu ähnlichen Projekten weltweit. Interkulturell ist übrigens auch der, im Sinne der Gender-Theorie weibliche Charakter der Ausstellungsprojekte. Die Art der Kooperation von Künstlerinnen und Ausführenden ist eine andere, als bei klassisch männlichen Projekten, die von einem Künstler und dessen Werkstatt ausgeführt werden. Nicht zufällig ist deshalb auch die überwiegend weibliche Beteiligung am Projekt und beim Besuch der Ausstellung.

Scheinbare Gegensätze werden durch Interventionen integriert

Die Integration von Kunststoff und natürlicher Lebensraum, was meist als Gegensatz oder Bedrohung des einen durch das andere wahrgenommenen wird. Genauso selbstverständlich wie Bäume, Pflanzen oder eben Korallen Artefakte integrieren oder überwuchern können (die Urwaldtempel, die Riffs auf Schiffswracks, die eingewachsenen Autowracks) werden hier „natürliche“ Materialien wie Wolle und Baumwolle mit Kabelbindern, Kronkorken, Kunststoffverpackungen aller Art und recycelten Granulaten kombiniert.

Wie in erfolgreicher Organisationsentwicklung entsteht durch Interventionen dialektisch aus dem Polaren, scheinbar Unvereinbaren (wie Innovation und Tradition) etwas Neues, Drittes mit Hilfe des kreativen Brechens alter Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsmuster.

Die soziale Organisation und der Prozess, der zum Entstehen der Ausstellung führte, ist mit den Prozessen von Organisationsentwicklung vergleichbar. Einer Initiative Einzelner mit der unverzichtbaren Zutat des Kairos, des rechten Moments, folgt ein strukturiertes Arbeiten Vieler. Schließlich werden die Ergebnisse ausgewählt und ausgestellt, bei Organisationsentwicklungs-Prozessen zu neuen Leitbildern, neuen Strukturen, neuen Praktiken umgesetzt und publiziert.

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